Stadt der Mädchen

Lateinamerika, Sozialer Protest

Am Nachmittag ist die Straße Sotero dos Reis noch feucht vom Regen der Nacht. Der beißende Geruch nach Alkohol und Urin liegt in der Luft – diesen können selbst die Unmengen an Wasser nicht wegspülen. Auf den Gehsteigen sammeln sich Müllberge, Musik mit dröhnendem Bass beschallt die Umgebung. Während die letzten Lastwägen die Straße Richtung Ausfahrt verlassen, haben die Frauen in den Bars gegenüber des Kühlhauses ihre Arbeit längst begonnen. Leicht bekleidet sitzen sie auf den Terrassen mit verschnörkeltem Geländer und warten auf Kunden.

Es ist das größte und älteste Prostituiertenviertel von Rio de Janeiro, die Vila Mimosa. 1.500 Frauen arbeiten hier in Schichten und bieten doppelt so vielen Männern täglich ihre Dienste an. Das Viertel hat Tradition, doch es wird von Politik und Gesellschaft missachtet. In der Vergangenheit wurden die Sexarbeiterinnen immer wieder aus den ihnen angestammten Räumen vertrieben. Zuletzt 1996, als die Bordelle in Zentrumsnähe einem hochmodernen Telekommunikationszentrum weichen mussten.

Damals suchten die Frauen einen neuen Ort, an dem sie ihrer Arbeit nachgehen konnten. Sie fanden ihn zwischen zwei Eisenbahnstrecken, in einem alten Industrieviertel. Vier Straßen umfasst die Vila Mimosa heute, inzwischen hat sie sich zu einem Mikrokosmos aus Bordellen, Bars, Verkaufsständen und kleinen Wohnhäusern entwickelt. Doch wieder einmal ist ihr Weiterbestehen durch ein Bauprojekt bedroht: Ein Schnellzug zwischen Rio de Janeiro und São Paulo soll direkt durch das Viertel führen. Dabei haben die Frauen der Vila Mimosa ganz andere Pläne.

In der Straße Ceará, nur wenige Meter von den Bars entfernt, befindet sich inmitten unzähliger Motorradwerkstätten und Rockclubs ein unscheinbares Gebäude. Neben dem Eingang werden auf einer Anschlagtafel Sprach- und Informatikkurse angeboten. In einem der Räume schmückt ein Blatt Papier die dunkelblau gestrichene Wand. »Gib dein Bestes, damit auch du immer das Beste bekommst«, steht darauf geschrieben. Und: »Gestalte deinen Arbeitsplatz so wie die schönste Ecke deines Zuhauses.« Es sind gute Ratschläge, die auf dem Zettel notiert wurden. Dabei sieht der Raum nicht so aus, als hätte man sich an diese Weisheiten gehalten. Das kühle Licht wirkt wenig einladend, aus dem Nebenzimmer dringen hallende Stimmen, von den Wänden blättert die Farbe ab. »Sehr schön ist es hier nicht«, sagt Cleide Almeida mit einem Seufzer, während sie sich an einen der Tische setzt.

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Obwohl sie seit beinahe zwanzig Jahren in diesem Gebäude arbeitet, hat Cleide kein eigenes Büro. Darum empfängt sie ihre Gäste in einem der provisorisch eingerichteten Unterrichtsräume. Die 50-Jährige ist Sozialarbeiterin bei AMOCAVIM, der Interessensvertretung der Sexarbeiterinnen der Vila Mimosa. Sie ist eine energiegeladene Frau mit rot gefärbtem Haar und blau lackierten Fingernägeln. Während sie spricht, schlägt sie immer wieder mit der flachen Hand auf den Tisch. So, als wollte sie dem Gesagten noch mehr Ausdruck verleihen. Schon früh lernte sie, sich durchzusetzen. Und sie kennt die Vila Mimosa wie ihre eigene Westentasche.

Der Name des Viertels steht für 24-Stunden-Betrieb und billigen Sex. Umgerechnet 10 Euro kostet eine halbe Stunde Programm. Viel weniger, als an der zehn Kilometer weit entfernten Copacabana. Es sind vor allem Frauen aus den armen Vororten, die zum Arbeiten in die Vila Mimosa kommen. »Die Meisten befinden sich in einer Ausnahmesituation, haben finanzielle Probleme«, sagt Cleide Almeida. Viele hätten sich von ihren Partnern getrennt und müssten plötzlich das Geld für die Kinder alleine aufbringen. »Sie kommen mit der Idee, nur vorübergehend hier zu arbeiten. Ein Großteil aber bleibt in der Vila Mimosa hängen.« Cleide weiß das, denn sie ist in dem Rotlichtviertel groß geworden.

Sie stammt selbst aus ärmlichen Verhältnissen. Der Vater war Alkoholiker, wurde gegenüber der Mutter immer wieder handgreiflich. Als Cleide sieben Jahre alt war, verließ ihre Mutter samt der zehn Kinder den gewalttätigen Mann und begann zuerst als Schneiderin, später als Köchin in der Vila Mimosa zu arbeiten. Während die Mutter Fisch und Huhn für die Prostituierten und deren Kunden zubereitete, vertrieben sich die Kinder unter der Theke die Zeit. »Mit 18 habe ich den Verkaufsstand dann übernommen«, sagt Cleide. In der Prostitution gearbeitet hat sie nie. Doch sie kennt die Frauen des Viertels, ihre Schicksale und Sorgen.

Auch sie lässt die Vila Mimosa nicht mehr los. »Als die Sexarbeiterinnen 1996 umziehen mussten, ging ich mit und begann für AMOCAVIM zu arbeiten«, erklärt sie. Cleide Almeida koordiniert die Sozial- und Gesundheitsprojekte der Organisation. Viele der Frauen der Vila Mimosa würden aus der Prostitution aussteigen wollen, sagt sie. Ihrer Meinung nach gibt es dazu nur einen Weg: Bildung. Sie selbst hat ihren Schulabschluss um die Jahrtausendwende nachgeholt und 2006 eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin abgeschlossen. Demnächst will sie einen Englisch-Kurs besuchen. AMOCAVIM setzt auf Weiterbildung und steht dabei vor allem für eines: Selbstermächtigung.

Das erkannte auch Guilherme Ripardo, als er sich 2005 auf die Suche nach einem Thema für seine Abschlussarbeit machte. Er war Student der Architektur und schlug sich die Wochenenden in den Rockbars der Straße Ceará um die Ohren. »Dass sich gleich nebenan ein Prostituiertenviertel befindet, war mir lange nicht bewusst«, sagt er. Ursprünglich wollte Guilherme die Straße Ceará neu gestalten. Je eingehender er sich aber mit deren Umgebung beschäftigte, umso deutlicher wurde, dass in diesem Viertel etwas Anderes von Nöten war.

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Während Guilherme von der Entstehungsgeschichte seines Projekts erzählt, greift er sich manchmal ans Kinn und zwirbelt seinen dichten Ziegenbart. Es wirkt, als würde er in der Zeit zurückreisen. »Ich habe mich damals mit vielen Prostituierten unterhalten«, sagt er. Der heute 36-Jährige wollte herausfinden, welche Bedürfnisse diese Frauen, die von Politik und Gesellschaft verachteten werden, wirklich hatten. »Ich wollte etwas erschaffen, das ihnen das Überleben in der Vila Mimosa erleichtert und sie näher an die Gesellschaft rückt.« Es war der Beginn der »Cidade das Meninas«, der Stadt der Mädchen.

Guilherme klappt sein Notebook auf und tippt die Adresse seiner Webseite in den Browser. Er zeigt auf eine Zeichnung, auf der zwei Frauenkörper abgebildet sind. Einer ausgestreckt, die Arme über dem Kopf, die Beine gespreizt. Der andere zusammengerollt, in Embryonalstellung. »Der Großteil der Prostituierten der Vila Mimosa vereint zwei Charaktere in sich: den der Mutter und den der Sexarbeiterin«, sagt er. Dieser doppelten Rolle der Frauen wollte er in seiner Arbeit gerecht werden. Es ging Guilherme nicht darum, das Rotlichtviertel an sich zu verändern. Er wollte die Räume der Selbstermächtigung neu gestalten, sie freundlicher und einladender machen.

Unzählige Stunden verbrachte er mit Cleide und führte lange Gespräche. »Es ging vor allem um eines: Wie soll die Zukunft aussehen?«, sagt sie. Das Ergebnis dieser gemeinsamen Arbeit überzeugt sie. Die Gebäude, die Guilherme entworfen hat, bieten Platz für eine Vielzahl an Aktivitäten außerhalb der Prostitution. »Hüfte und Beine der sich hingebenden Frau können für Präsentationen und Veranstaltungen verwendet werden«, erklärt er. Aus hellem und transparentem Material soll dieser Teil sein, nicht abgeschottet vom Rest der Welt. Die Frauen der Vila Mimosa wollen ihn für eine Ausstellung über die Geschichte der Prostitution in Brasilien und ihrem Viertel nutzen. Kopf und Arme könnten das Weiterbildungszentrum beherbergen. So sieht es Guilherme zumindest in seinem Konzept vor.

Die andere Figur, die für die Rolle der Mutter steht, weist einen intimeren Charakter auf. »Eine Sache hat mich während meiner Recherche schockiert«, sagt Guilherme. Nämlich, dass viele der Prostituierten ihre Kinder zur Arbeit mitnehmen und in einer Art Kinderkrippe abgeben. Im Schoß des zusammengerollten Frauenkörpers soll diese jetzt unterkommen. »Es muss einen organisierten, geschützten Raum für diese Kinder geben«, erklärt er. Der Bereich des Kopfes widmet sich dem Wohlergehen der Frauen selbst: ihrer Gesundheit. Hier sollte der Arzt, der schon heute ehrenamtlich Untersuchungen anbietet, seinen Platz haben.

Bis jetzt ist das Projekt jedoch nur ein Traum. »Es wäre schön, wenn sich jemand finden würde, der investieren will«, sagt Cleide Almeida. Eine zeitlang hat sie gemeinsam mit Guilherme Ripardo nach Geldgebern gesucht. Doch die Suche gestaltete sich schwierig. Keine politische Institution hat bisher Interesse an der »Stadt der Mädchen« gezeigt. Auch sonst engagieren sich nur wenige Politiker aktiv für eine marginalisierte Personengruppe wie die der Prostituierten. »Das würde für sie das Ende ihrer Karriere bedeuten«, gibt Cleide zu, die eigentlich über gute Kontakte verfügt. Trotzdem kann sie nicht nachvollziehen, weshalb Brasilien Milliarden für die Fußball-Weltmeisterschaft ausgibt, obwohl Investitionen in Gesundheit und Bildung derzeit viel wichtiger wären.

Als der damalige Präsident Luiz Inácio Lula 2007 bekannt gab, dass Brasilien sowohl die Fußball-Weltmeisterschaft 2014, als auch die Olympischen Spiele 2016 austragen würde, verfiel das Land zunächst in einen Freudentaumel. Doch die Stimmung wandelte sich, je näher die Sportevents rückten. Immer mehr Menschen äußerten Kritik an den horrenden Ausgaben für Neu- und Umbauten und begannen gegen die Zwangsumsiedlungen ganzer Stadtteile zu demonstrieren. Auch die Vila Mimosa befindet sich an einem Ort, an dem ein Bauvorhaben realisiert werden soll.

Der Schnellzug zwischen Rio de Janeiro und São Paulo, dessen Trasse in den Plänen der Regierung durch das Gebiet des Rotlichtviertels führt, hätte eigentlich schon zur Fußball-Weltmeisterschaft in Betrieb sein sollen. Doch immer wieder wurde der Eröffnungstermin für die Bahnstrecke verschoben. Zuerst auf das Jahr 2016, dann auf 2020.

Für die Frauen der Vila Mimosa war die Nachricht ein Schock. »Viele haben mich gefragt, ob wir jetzt wieder umziehen müssten«, sagt Cleide. Das würde bedeuten, vieles von Vorne beginnen, sich einen neuen Raum erkämpfen zu müssen. Und diesen erst einmal zu finden. »In Zentrumsnähe ist für die Vila Mimosa kein Platz, dort will man die Prostituierten nicht.« Das Rotlichtviertel müsste Richtung Vororte übersiedeln. Ein Umzug würde die Sexarbeiterinnen ein ums andere Mal marginalisieren und sie noch weiter an den Rand der Gesellschaft drängen, glaubt Cleide.

Dabei gab es in letzter Zeit auch gute Nachrichten. Inzwischen scheint es, als würde die Regierung den Plan des Schnellzugs zwischen Rio de Janeiro und São Paulo endgültig verwerfen. Konkrete Informationen dazu lassen sich nicht eruieren, doch ist sich Cleide sicher, dass sie nicht um das Weiterbestehen der Vila Mimosa am aktuellen Ort kämpfen wird müssen.

Im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft hat sich außerdem ein Mann bei ihr gemeldet: Er arbeitet für eine Firma mit Sitz in London, die Projekte im Bereich Museen und Ausstellungen entwickelt und umsetzt. Er wollte mehr über die »Stadt der Mädchen« erfahren und lässt – wie er auf schriftliche Anfrage bekannt gibt – derzeit Finanzierungsmöglichkeiten prüfen. Für die Sozialarbeiterin Cleide Almeida und den Architekten Guilherme Ripardo ist das ein erster Erfolg. Das Interesse eines internationalen Unternehmens an der »Stadt der Mädchen« zeigt, dass sie doch kein utopischer Traum ist, sondern Wirklichkeit werden könnte. Dann hätte Cleide endlich Zeit, sich voll und ganz auf die Bereitstellung von Weiterbildungsprogrammen zu konzentrieren. Zur Selbstermächtigung der Prostituierten.

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