Das Bild hat sich in seinem Kopf eingebrannt: Drei Jugendliche, die normalerweise Waffen in ihren Händen halten, stehen jetzt um eine Kamera herum. Während die Maschinengewehre hinter ihnen an eine Hauswand gelehnt sind, betrachten sie die Fotos auf dem kleinen Display. Die jungen Männer sind begeistert, für einen Moment haben sie alles um sich herum vergessen. Und Bruno Itan hat eine Idee: Die Teenager seiner Favela sollten Fotos schießen, keine Menschen mehr.
Die Geschichte des heute 26-Jährigen wirkt, als wäre sie einem Hollywoodstreifen mit Happy End entsprungen. Tatsächlich erinnert sie an die Erzählungen des brasilianischen Schriftstellers Paulo Lins, dessen Buch »City of God« 2002 unter gleichnamigem Titel verfilmt wurde und weltweit Erfolge feierte. Thema: Das Leben innerhalb der gewalttätigen Sphären der »Stadt Gottes«, einer Favela in Rio de Janeiro, die in den 70er-Jahren Schauplatz brutaler Bandenkriege wurde. Protagonist im Film ist Buscapé, ein schwarzer Junge, der im Armenviertel groß geworden ist, sich aber von den Drogengangs fernzuhalten versucht. Er arbeitet als Austräger für eine Tageszeitung, kauft um das zusammengesparte Gehalt eine Kamera und wird zu einem leidenschaftlichen Fotografen. Als die Kämpfe in der »City of God« eskalieren, schafft er es als Einziger, Bilder davon zu machen. Das bringt ihm letzten Endes nicht nur die Bewunderung der Zeitungsjournalisten sondern auch eine Anstellung als Fotograf ein.
Überträgt man diese Geschichte in das Jahr 2010, lässt sie im 15 Kilometer weit entfernten »Complexo do Alemão« spielen und als Protagonist einen weißen Jungen auftreten, landet man unweigerlich bei Bruno Itan. Dieser blickt jetzt auf ein Meer aus Ziegelhäusern, das die flachen Hänge wie ein enges Kleid umspannt. Darüber schweben rote Gondeln, bewegen sich über Brunos Kopf hinweg und fahren dann mit einem lauten Knacken in die Seilbahnstation »Alemão« ein. In der Ferne flattern bunte Papierdrachen im Wind, zwischen den Rohbauten blitzen blaue Wassertanks hervor – das typische Bild einer brasilianischen Favela. Bruno ist im »Complexo do Alemão« aufgewachsen, einer Ansammlung aus 15 Armenvierteln, die sich auf einer Hügellandschaft im Norden von Rio de Janeiro ausbreitet. Geschätzte 70.000 Bewohner zählt der Komplex, wieviele es wirklich sind, kann aber niemand sagen.
Brunos Geschichte beginnt mit der Arbeit als Billeteur in einem Kino. »Dort kam ich das erste Mal mit audivisuellen Medien in Kontakt«, erzählt er. Die Bilder begeisterten ihn und die unzähligen Filme, die er im Kino sah, schärften seinen Blick. Von diesem Zeitpunkt an – Bruno war gerade einmal sechzehn – wollte er nichts anderes mehr, als Fotograf werden. Er wechselte vom Kino zu einer Tankstelle, wo er begann, Autos zu waschen, und das hart verdiente Geld sparte, bis er sich mit 19 seine eigene Kamera leisten konnte. Noch heute bewahrt er die Sony mit schwenkbarem Display zuhause auf, als wäre sie ein wertvoller Schatz. Es war diese Kamera, die ihm das Tor zu seinem neuen Leben öffnete.
Lange Zeit war der »Complexo do Alemão« ein Ort, an den sich Journalisten nur selten wagten. Für die Medien waren die brasilianischen Favelas Synonyme für Drogenkriege und Bandenkriminalität. Das zumindest war das Bild, das sie davon vermittelten. Nicht so Bruno. »Ich wollte die schönen Seiten der Favela zeigen«, sagt er. Für ihn war sein Zuhause mehr, als nur ein hässlicher Drogensumpf.
Immer wenn Bruno Zeit hatte, zog er mit seiner Kamera durch die Straßen und dokumentierte vor allem eines: den ganz normalen Alltag im »Complexo do Alemão«. Einen Nachmittag am See mitten in der Favela, spielende Kinder und alte Leute, zum Trocknen aufgehängte Wäsche. Schwer bewaffnete Bandenmitglieder, ermordete Drogenhändler, Gewalt und Elend interessierten ihn wenig. Nur im November 2010 sollte alles ein bisschen anders sein.
Im Vorfeld von Fußball-Weltmeisterschaft und Olympischen Spielen hatte die Regierung von Rio de Janeiro damit begonnen, einen Teil der über 1.000 Elendsviertel der Stadt zu pazifizieren. Das heißt: sie mittels Militäroperationen von Kriminellen zu säubern und der Kontrolle des Staates zu unterwerfen. Lebhaft schildert Bruno, wie eines Tages gepanzerte Fahrzeuge in den »Complexo do Alemão« vorrückten und schwer bewaffnete Soldaten die engen Gassen der Favela stürmten. Mit im Schlepptau: eine Meute Journalisten in kugelsicheren Westen.
Wenn er heute von diesem warmen Sommermonat erzählt, lacht Bruno. So, als könnte er seine eigene Geschichte selbst nicht ganz glauben. Während man den Pressefotografen nur erlaubte, sich hinter den Soldaten den Hügel hochzubewegen, war Bruno mittendrin im Geschehen. Und nicht nur das. Er kannte die Favela wie die eigene Westentasche, hatte so etwas wie einen Heimvorteil. 400 Fotos schoß er an diesem Tag, vielleicht mehr, sagt er. Dabei bannte er auch heikle Szenen auf den Chip seiner Kamera. Mit vorgehaltener Waffe zwang ihn ein Polizist später, einen Großteil der Bilder zu löschen. »Nur dreißig Fotos habe ich wiederherstellen können«, sagt Bruno. Manche davon erschienen am nächsten Tag in brasilianischen Zeitungen.
Heute lebt Bruno in einem kleinen Haus in der Nähe der Seilbahn-Station, zu dem man durch eine enge, unwegsame Gasse gelangt. Neben dem Eingang befindet sich eine kleine Küche, ein Stockwerk höher Brunos Schlafzimmer. Darin hat gerade einmal ein Bett Platz, für mehr Möbel ist der Raum zu klein. Über eine enge Wendeltreppe geht es auf das Dach des Hauses. Eigentlich hätte Bruno das Geld, sich eine Wohnung außerhalb der Favela zu leisten. Doch er hat beschlossen, zu bleiben. »Die Jugend hier braucht Vorbilder«, sagt er.
Nach der Besetzung des »Complexo do Alemão« widmete sich Bruno Itan wieder der Dokumentation des Favela-Alltags. Zu diesem gehörte auch der Bau der neuen Seilbahn, die heute den gesamten Komplex miteinander verbindet. Als sie im Sommer 2011 feierlich eröffnet wurde, waren es Brunos Bilder, die in einer der Stationen großformatig ausgestellt wurden. Die Erinnerung an diesen Tag lässt ihn euphorisch werden. Er springt auf, gestikuliert wild und zeigt, wie das damals ablief. Denn an diesem Tag sollte niemand Geringeres als die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff auf Bruno aufmerksam werden.
In einer kleinen Kommode neben der Wendeltreppe bewahrt Bruno alles auf, das mit der Fotografie zu tun hat: alte Lehrbücher, die er irgendwann einmal auf einem Flohmarkt gekauft hat, Zeitungen, in denen seine Bilder erschienen sind, einen Schnappschuss mit der Präsidentin und einen Brief der britischen Königsfamilie. Diesen hat ihm die Botschaft Großbritanniens zukommen lassen, nachdem Prinz Harry einmal den »Complexo do Alemão« besucht hat. Zwischen all den Schätzen kramt Bruno ein Foto hervor. Darauf zu sehen: er selbst mit einem strahlenden Lachen im Gesicht und einer großen Kamera um den Hals. »Der erste Arbeitstag im Palácio Guanabara«, sagt Bruno.
Denn Präsidentin Dilma Rousseff war nicht alleine zur Eröffnung der Favela-Seilbahn gekommen. Mit dabei war auch Sérgio Cabral, Sohn eines Journalisten und Gouverneur des Bundesstaates Rio de Janeiro. Er war begeistert von Brunos Fotos und bot dem 23-Jährigen kurzerhand einen Job als Fotograf in seiner Presseabteilung an, in der darauffolgenden Woche sollte er im Regierungspalast Guanabara vorstellig werden. »Ich dachte, das wäre ein Scherz und ging nicht hin«, lacht Bruno. Erst als man ihm telefonisch mitteilte, dass er am Fuße des »Complexo do Alemão« mit einem Auto abgeholt würde, dämmerte ihm, dass all das kein Traum war.
Heute erscheint Bruno in Anzug und Krawatte zur Arbeit. Er begleitet den Governeur von Rio de Janeiro bei offiziellen Terminen, war in Brasília und São Paulo. Einmal durfte er sogar mit nach China. Auch wenn sein neues Leben aufregend ist, findet Bruno seine Lieblingsmotive immer noch zuhause am Favela-Hügel. Darum streift er an seinen freien Wochenenden auch heute noch durch die engen Gassen des »Complexo do Alemão«, immer bewaffnet mit Kamera und Objektiv, jederzeit bereit, abzudrücken. Nur eine Sache ist jetzt anders: er ist nicht mehr alleine unterwegs, sondern gemeinsam mit den Mitgliedern des von ihm gegründeten Fotoklubs. Brunos Ziel: den Jugendlichen der Favela Perspektiven außerhalb von Drogenhandel und Kriminalität aufzuzeigen. Denn sie sollten Fotos schießen, keine Menschen mehr.
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