Früher hatte Daniel einen Traum. Darin jubelte das Publikum, wenn er den Ball leichtfüßig vor sich herjagte. Feuerten ihn seine Fans an, so dass er noch schneller lief. Klatschten die Zuschauer, wenn ihm ein guter Pass gelang. Er wollte Profifußballer werden. In seinem Stadtviertel gab es junge Männer, die bei ausländischen Klubs unter Vertrag standen. Wenn sie auf Heimaturlaub kamen, organisierten sie Turniere für die Kinder der Nachbarschaft. Ihr Leben sah schön aus. Daniel Kombi wollte genauso werden. Nur noch das machen, wofür sein Herz brannte: Fußball spielen.
Alles begann in Douala, Kamerun. Auf Google Maps fährt Daniel mit dem Finger die Straßen seiner Heimatstadt entlang. Er deutet auf ein graues Rechteck auf dem Bildschirm. Das Haus seiner Eltern. Hier hat er seine Kindheit verbracht. Gegenüber eine freie Fläche. Der Fußballplatz. Hier hat er kicken gelernt. Drei Häuserblocks weiter die Schule. Er habe eine schöne Kindheit gehabt, sagt er. Seine Freizeit verbrachte er mit drei Schwestern, einem Bruder. Und dem Fußball. Einmal, sagt er, habe ihm sein Vater das Spielen verboten, weil er in der Schule schlechte Noten hatte. Er spielte trotzdem.
Sein Leben änderte sich vor vier Jahren, im Juni 2010. Die Sommerferien standen vor der Tür und Daniel freute sich auf die freie Zeit, die er mit seinen Freunden auf dem Fußballplatz verbringen würde. Doch es sollte anders kommen. Ein Mann kontaktierte seinen Vater. Er stellte sich als Spielervermittler mit guten Kontakten nach Argentinien vor. Der Junge hätte Talent, sagte der Agent, er könnte bei River Plate in Buenos Aires vorspielen. Daniel hatte von diesem Klub gehört: Rekordmeister der argentinischen Liga. Das war die große Chance. Die Möglichkeit, seine Träume zu verwirklichen. Der Agent zeigte ihm Fotos von anderen kamerunischen Fußballspielern, die er nach Argentinien vermittelt hatte. Er organisierte ein Telefonat mit einem von ihnen. »Ich glaubte diesem Mann«, sagt Daniel. Die Sache hörte sich plausibel an. Zu diesem Zeitpunkt wusste er nicht, dass er wenige Monate später mittellos auf der Straße stehen würde. Minderjährig. Mit nur fünfzehn Jahren.
Daniels Geschichte ist die Tausender Jugendlicher aus Afrika. Angeworben von vermeintlichen Spielervermittlern machen sie sich auf den Weg ins Ausland, um dort eine große Fußballkarriere zu beginnen. Die Agenten verlangen Geld: für das Visum, für das Flugticket, Vermittlungsgebühren. Tausende Euro. Die Familien der jungen Talente zahlen. Sie hegen die Hoffnung, dass sich ihre Söhne in Fußballgötter wie Samuel Eto’o verwandeln. Dass sie werden wie der Kameruner, der für den FC Chelsea in der englischen Liga spielt. Doch häufig verläuft sich der junge Traum von Afrikas Kindern in den verwinkelten Straßen fremder Städte. Von den vermeintlichen Agenten werden sie allein gelassen in einem Land, dessen Sprache sie nicht sprechen. River Plate war eine leere Versprechung. Der Traum geplatzt wie eine Seifenblase.
Buenos Aires, Stadtviertel Caballito. Beständig wippt Omar mit den Beinen auf und ab. Eigentlich wollte er zu diesem Gespräch nicht kommen. Jetzt sitzt er trotzdem hier. Er will nicht, dass etwas über ihn geschrieben wird, das andere von ihm erzählen. »Es ist nicht meine Schuld«, sagt er achselzuckend. »Er war einfach nicht gut genug.«
Omar ist der gute Kontakt, von dem der Spielervermittler in Kamerun gesprochen hatte. Er ist Fußballagent. Zumindest sagt er das, offizielle Lizenz hat er keine. Omar ist Mitte fünfzig, von korpulenter Statur, hat goldblond gefärbte Haare. Das halb zugeknöpfte Hemd gibt Einblicke auf seine behaarte Brust und den dicken Bauch frei. Wenn Omar von den Spielern redet, die ihm sein Partner aus Afrika schickt, spricht er von Waren. Seit sieben Jahren nimmt er solche Waren aus Kamerun entgegen.
Zehn Spieler hat Omar während der vergangenen Jahre betreut. Erfolgsquote bisher: Null. »Es war einfach kein Juwel dabei«, sagt er. Drei oder vier Monate gibt Omar den Jugendlichen Zeit. Wenn sie bis dahin keinen Klub gefunden haben, lässt er sie fallen. So wie Daniel. Im August 2010 holte Omar ihn vom Flughafen in Buenos Aires ab, im November ließ er ihn sitzen. »Ich kann mich nicht ewig um ihn kümmern«, sagt Omar. So wäre das Geschäft. Wer nicht funktioniere, werde aussortiert. Dass Daniel gar keine Chance hatte, erwähnt er nicht.
Ein Mann, der viele solcher Fälle kennt, ist Jean Claude Mbvoumin. Er selbst stand acht Mal für das kamerunische Nationalteam auf jenem Rasen, der für viele Teenager die ganze Welt bedeutet. Seit zwanzig Jahren lebt er in Frankreich, wo er in den Neunzigern für verschiedene Profiklubs Fußball spielte. Einmal, erzählt Jean Claude, habe ihn die Botschaft seines Heimatlandes angerufen. Eine ganze Mannschaft 14-Jähriger war von ihrem Spielervermittler sitzen gelassen worden. Das war 1999. Als er die Kinder sah, wusste er, dass er etwas unternehmen musste.
Jean Claude spricht von Menschenhandel, wenn es um den Transfer minderjähriger Spieler ins Ausland geht. Im Dezember 2000 gründete er Foot Solidaire, eine NGO, die sich der Opfer dieses Handels annimmt. Schon länger dient Afrika als Fundgrube für junge Fußballtalente. Doch in den vergangenen Jahren hat sich die Suche nach Nachwuchsspielern vielerorts in ein schmutziges Spiel mit deren jungen Träumen verwandelt. »Wendepunkt war das Jahr 1995«, sagt Jean Claude. Damals wurde am Europäischen Gerichtshof das Bosman-Urteil gefällt: Es erlaubte den ablösefreien Wechsel von Spielern zu anderen Klubs und kippte die zuvor bestehenden Ausländerklauseln. Kleine Klubs verloren ihre besten Spieler. »Damit begann die massive Rekrutierung in Afrika«, sagt er. Denn: Afrikanische Ware ist billig.
Die Nachfrage nach neuen Spielern und die Hoffnung afrikanischer Familien, durch ihre Söhne der Armut zu entfliehen, ruft dubiose Gestalten auf den Plan. Sie geben an, über Kontakte zu ausländischen Fußballklubs zu verfügen: FC Paris Saint-Germain, FC Barcelona, FC Chelsea London. Es sind klingende Namen, mit denen sie um sich werfen. Neuerdings auch von Klubs in Asien oder Lateinamerika. Sie versprechen Probespiele bei den besten Vereinen mit Aussichten auf einen Vertrag. »Die Familien der jungen Fußballspieler fallen auf diese Betrüger herein«, sagt Jean Claude Mbvoumin. Gefälschte Agentenausweise, Fotos angeblich vermittelter Spieler und die scheinbare Einladung eines Klubs zum Vorspielen überzeugen sie. Auch Daniels Foto von einem Besuch im Stadion von River Plate schmückt heute die Facebook-Seite jenes Mannes, der ihn nach Argentinien gebracht hat. »Er erzählt jetzt wahrscheinlich anderen Kindern, dass ich dort unter Vertrag stehe«, sagt Daniel. Dabei hat er den Rasen dieses Stadions nie betreten.
Auch wenn es um Klubs im Ausland ginge, wäre das Hauptproblem in Afrika zu suchen, sagt Jean Claude Mbvoumin. »Den Familien ist oft nicht bewusst, welches Risiko sie eingehen, wenn sie ihre Söhne in die Hände dieser Fremden geben.« Für die vermeintlichen Agenten sind die Kinder Rohstoffe, aus denen Profit geschlagen werden kann. Auch Omar fühlte sich Daniel gegenüber zu nichts verpflichtet. »Wenn er minderjährig ist, dann liegt die Verantwortung bei seinen Eltern«, sagt er. Diese hätten ihn ins Ausland geschickt. Nicht er, Omar. Er habe sich an seinen Teil der Vereinbarungen gehalten und den 14-Jährigen zu verschiedenen Klubs zum Vorspielen gebracht.
»Für mich war Omar eine Vertrauensperson«, sagt Daniel. Er sitzt im Halbdunkel seines Zimmers in Tres Arroyos, einer verschlafenen Kleinstadt 500 Kilometer südlich von Buenos Aires. Die Jalousien sind nur wenige Zentimeter geöffnet. Draußen ist es kalt, der Winter hält Einzug in Argentinien. Sein Vertrauen wurde enttäuscht. Heute, vier Jahre später, erhebt er Vorwürfe gegen Omar. Dieser habe ihn zwar zu Klubs gefahren, aber lediglich zum Trainieren. Er habe ihn erst dann wieder abgeholt, als die Verantwortlichen des Vereins bereits nach Hause gegangen waren. Keine Gespräche über ein mögliches Probespiel. Für seine Dienste verlangte Omar Geld: monatlich umgerechnet 500 Euro. Der bestreitet das. Doch in den E-Mails, die er an Daniels Vater schickte, verlangt er ausdrücklich um Überweisungen an sein Konto.
Im Jahr 2001 hat die Weltfußballorganisation FIFA in ihrem Reglement ein Statut erlassen, das den internationalen Transfer von Kindern nur unter strengen Auflagen erlaubt – um genau diesen Handel mit minderjährigen Fußballerspielern zu unterbinden. Omar hätte wissen müssen, dass Daniel als Minderjähriger von keinem Club verpflichtet werden darf. Dass die FIFA diese Regeln ernst nimmt, musste im April diesen Jahres der spanische FC Barcelona erfahren. Der legendäre Klub wurde zu Strafzahlungen und Transfersperren verdonnert, nachdem bekannt wurde, dass er zwischen 2009 und 2013 zehn ausländische U16-Kicker transferiert und bei Fußballspielen eingesetzt hatte. Es ist das erste Urteil dieser Art seit Einführung der Regularien.
Omar schreckt das nicht ab. Nächstes Jahr will er selbst nach Afrika reisen, um seine Spieler auszusuchen. Denn mit der Auswahl seines Partners aus Kamerun ist er nicht zufrieden. Zu alt wären die Fußballer, zu wenig formbar. »Ich habe ihm gesagt, dass ich nur die Besten will«, sagt Omar. Er hofft noch immer auf den großen Coup.
Jean Claude Mbvoumin setzt unterdessen auf Sensibilisierung. Er trifft sich mit Vertretern europäischer Klubs, des Weltfußballverbands, der Vereinten Nationen, des Europarats. Kürzlich konnte er einige Botschafter der Afrikanischen Union für Gespräche gewinnen. »Afrika muss seine Jugend schützen«, sagt er. Das heißt: den lokalen Sport fördern und weiterentwickeln, Jugendschutzgesetze verabschieden, Kontrollmechanismen einführen. Und jene Personen, die in den illegalen Handel von minderjährigen Fußballspielern involviert sind, zur Rechenschaft ziehen. »Auch die Eltern, die ihre Kinder falschen Agenten übergeben«, sagt er. Hier müsse man ein Exempel statuieren.
Nachdem ihn der vermeintliche Spielervermittler sitzen gelassen hatte, war der damals 15-jährige Daniel auf sich selbst gestellt. »Das war die schlimmste Zeit meines Lebens«, sagt er heute. »Ich ging mit positiven Gefühlen aus Kamerun weg. Ich dachte, man würde hier in Argentinien auf mich warten.« Nie habe er geglaubt, alles selbst organisieren zu müssen. Er hatte keinen Klub, nicht einmal einen zum Trainieren. Es gab keine Möglichkeit, die Schule zu besuchen. Das Touristenvisum war abgelaufen, er illegal im Land.
Sechs Monate schlug sich Daniel alleine durch. Dann erzählte ihm ein Bekannter von einem Trainingszentrum für Fußballspieler ohne Klub. Eine erste Anlaufstelle. Dort konnte er trainieren, um für seinen großen Traum in Form zu bleiben. »Der Trainer fragte nach meinem Alter«, sagt er. Fünfzehn. Ob er Aufenthaltspapiere hätte. Hatte er keine. Der Mann riet ihm, sich bei der Migrationsbehörde zu melden. Und er stellte ihm eine Frau vor, die bereit war, die Vormundschaft für ihn zu übernehmen. Nur so konnte er als Minderjähriger seine Papiere in Argentinien in Ordnung bringen.
»Das Wichtigste ist, dass diese Kinder wieder zur Schule gehen«, sagt Jean Claude Mbvoumin. Sie davon zu überzeugen, wäre eine der schwierigsten Aufgaben seiner NGO. Doch nur mit einem Schulabschluss hätten die Jugendlichen eine Zukunft. »Wenn man mit ihnen spricht, merkt man, dass sie an nichts anderes denken, als den Fußball. Wir müssen ihnen erklären, dass es auch ein Leben außerhalb gibt«, sagt Jean Claude. Auch Daniel musste zu dieser Einsicht kommen. Ein Jahr, nachdem er Kamerun verlassen hatte, besuchte er wieder den Unterricht. Der argentinische Staat unterstützte ihn dabei finanziell. Er lernte Spanisch und fand neue Freunde. Heute ist er froh, dem Rat seines Trainers gefolgt zu sein. »So habe ich ein zweites Standbein, falls das mit dem Fußball doch nicht funktioniert«, sagt er.
Trotzdem hat er seinen Traum noch nicht ganz aufgegeben. Sein achtzehnter Geburtstag war für ihn ein wichtiger Tag, denn von da an konnte er legal in einem Fußballklub verpflichtet werden. Und tatsächlich wollte ihn ein kleiner Verein in der Provinz von Buenos Aires haben: Huracán Tres Arroyos. Stolz zeigt er den Wikipedia-Eintrag des Klubs, wo neben den Namen der argentinischen Spieler auch sein eigener aufgelistet ist. Bis heute hat er von diesem Klub keine Geld bekommen. Und er lebt dort, wo es keine asphaltierten Straßen mehr gibt, in einer heruntergekommenen Unterkunft ohne Heizung. Trotzdem glaubt er, seinem Traum ein Stück weit näher gekommen zu sein. »Jetzt kann ich meiner Familie manchmal auch gute Nachrichten überbringen«, sagt Daniel. Zum Beispiel die, dass sein Klub das letzte Spiel vier zu zwei gewonnen hat.
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