Stadt der Mädchen

Lateinamerika, Sozialer Protest

Am Nachmittag ist die Straße Sotero dos Reis noch feucht vom Regen der Nacht. Der beißende Geruch nach Alkohol und Urin liegt in der Luft – diesen können selbst die Unmengen an Wasser nicht wegspülen. Auf den Gehsteigen sammeln sich Müllberge, Musik mit dröhnendem Bass beschallt die Umgebung. Während die letzten Lastwägen die Straße Richtung Ausfahrt verlassen, haben die Frauen in den Bars gegenüber des Kühlhauses ihre Arbeit längst begonnen. Leicht bekleidet sitzen sie auf den Terrassen mit verschnörkeltem Geländer und warten auf Kunden.

Es ist das größte und älteste Prostituiertenviertel von Rio de Janeiro, die Vila Mimosa. 1.500 Frauen arbeiten hier in Schichten und bieten doppelt so vielen Männern täglich ihre Dienste an. Das Viertel hat Tradition, doch es wird von Politik und Gesellschaft missachtet. In der Vergangenheit wurden die Sexarbeiterinnen immer wieder aus den ihnen angestammten Räumen vertrieben. Zuletzt 1996, als die Bordelle in Zentrumsnähe einem hochmodernen Telekommunikationszentrum weichen mussten.

Damals suchten die Frauen einen neuen Ort, an dem sie ihrer Arbeit nachgehen konnten. Sie fanden ihn zwischen zwei Eisenbahnstrecken, in einem alten Industrieviertel. Vier Straßen umfasst die Vila Mimosa heute, inzwischen hat sie sich zu einem Mikrokosmos aus Bordellen, Bars, Verkaufsständen und kleinen Wohnhäusern entwickelt. Doch wieder einmal ist ihr Weiterbestehen durch ein Bauprojekt bedroht: Ein Schnellzug zwischen Rio de Janeiro und São Paulo soll direkt durch das Viertel führen. Dabei haben die Frauen der Vila Mimosa ganz andere Pläne.

In der Straße Ceará, nur wenige Meter von den Bars entfernt, befindet sich inmitten unzähliger Motorradwerkstätten und Rockclubs ein unscheinbares Gebäude. Neben dem Eingang werden auf einer Anschlagtafel Sprach- und Informatikkurse angeboten. In einem der Räume schmückt ein Blatt Papier die dunkelblau gestrichene Wand. »Gib dein Bestes, damit auch du immer das Beste bekommst«, steht darauf geschrieben. Und: »Gestalte deinen Arbeitsplatz so wie die schönste Ecke deines Zuhauses.« Es sind gute Ratschläge, die auf dem Zettel notiert wurden. Dabei sieht der Raum nicht so aus, als hätte man sich an diese Weisheiten gehalten. Das kühle Licht wirkt wenig einladend, aus dem Nebenzimmer dringen hallende Stimmen, von den Wänden blättert die Farbe ab. »Sehr schön ist es hier nicht«, sagt Cleide Almeida mit einem Seufzer, während sie sich an einen der Tische setzt.

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Obwohl sie seit beinahe zwanzig Jahren in diesem Gebäude arbeitet, hat Cleide kein eigenes Büro. Darum empfängt sie ihre Gäste in einem der provisorisch eingerichteten Unterrichtsräume. Die 50-Jährige ist Sozialarbeiterin bei AMOCAVIM, der Interessensvertretung der Sexarbeiterinnen der Vila Mimosa. Sie ist eine energiegeladene Frau mit rot gefärbtem Haar und blau lackierten Fingernägeln. Während sie spricht, schlägt sie immer wieder mit der flachen Hand auf den Tisch. So, als wollte sie dem Gesagten noch mehr Ausdruck verleihen. Schon früh lernte sie, sich durchzusetzen. Und sie kennt die Vila Mimosa wie ihre eigene Westentasche.

Der Name des Viertels steht für 24-Stunden-Betrieb und billigen Sex. Umgerechnet 10 Euro kostet eine halbe Stunde Programm. Viel weniger, als an der zehn Kilometer weit entfernten Copacabana. Es sind vor allem Frauen aus den armen Vororten, die zum Arbeiten in die Vila Mimosa kommen. »Die Meisten befinden sich in einer Ausnahmesituation, haben finanzielle Probleme«, sagt Cleide Almeida. Viele hätten sich von ihren Partnern getrennt und müssten plötzlich das Geld für die Kinder alleine aufbringen. »Sie kommen mit der Idee, nur vorübergehend hier zu arbeiten. Ein Großteil aber bleibt in der Vila Mimosa hängen.« Cleide weiß das, denn sie ist in dem Rotlichtviertel groß geworden.

Sie stammt selbst aus ärmlichen Verhältnissen. Der Vater war Alkoholiker, wurde gegenüber der Mutter immer wieder handgreiflich. Als Cleide sieben Jahre alt war, verließ ihre Mutter samt der zehn Kinder den gewalttätigen Mann und begann zuerst als Schneiderin, später als Köchin in der Vila Mimosa zu arbeiten. Während die Mutter Fisch und Huhn für die Prostituierten und deren Kunden zubereitete, vertrieben sich die Kinder unter der Theke die Zeit. »Mit 18 habe ich den Verkaufsstand dann übernommen«, sagt Cleide. In der Prostitution gearbeitet hat sie nie. Doch sie kennt die Frauen des Viertels, ihre Schicksale und Sorgen.

Auch sie lässt die Vila Mimosa nicht mehr los. »Als die Sexarbeiterinnen 1996 umziehen mussten, ging ich mit und begann für AMOCAVIM zu arbeiten«, erklärt sie. Cleide Almeida koordiniert die Sozial- und Gesundheitsprojekte der Organisation. Viele der Frauen der Vila Mimosa würden aus der Prostitution aussteigen wollen, sagt sie. Ihrer Meinung nach gibt es dazu nur einen Weg: Bildung. Sie selbst hat ihren Schulabschluss um die Jahrtausendwende nachgeholt und 2006 eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin abgeschlossen. Demnächst will sie einen Englisch-Kurs besuchen. AMOCAVIM setzt auf Weiterbildung und steht dabei vor allem für eines: Selbstermächtigung.

Das erkannte auch Guilherme Ripardo, als er sich 2005 auf die Suche nach einem Thema für seine Abschlussarbeit machte. Er war Student der Architektur und schlug sich die Wochenenden in den Rockbars der Straße Ceará um die Ohren. »Dass sich gleich nebenan ein Prostituiertenviertel befindet, war mir lange nicht bewusst«, sagt er. Ursprünglich wollte Guilherme die Straße Ceará neu gestalten. Je eingehender er sich aber mit deren Umgebung beschäftigte, umso deutlicher wurde, dass in diesem Viertel etwas Anderes von Nöten war.

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Während Guilherme von der Entstehungsgeschichte seines Projekts erzählt, greift er sich manchmal ans Kinn und zwirbelt seinen dichten Ziegenbart. Es wirkt, als würde er in der Zeit zurückreisen. »Ich habe mich damals mit vielen Prostituierten unterhalten«, sagt er. Der heute 36-Jährige wollte herausfinden, welche Bedürfnisse diese Frauen, die von Politik und Gesellschaft verachteten werden, wirklich hatten. »Ich wollte etwas erschaffen, das ihnen das Überleben in der Vila Mimosa erleichtert und sie näher an die Gesellschaft rückt.« Es war der Beginn der »Cidade das Meninas«, der Stadt der Mädchen.

Guilherme klappt sein Notebook auf und tippt die Adresse seiner Webseite in den Browser. Er zeigt auf eine Zeichnung, auf der zwei Frauenkörper abgebildet sind. Einer ausgestreckt, die Arme über dem Kopf, die Beine gespreizt. Der andere zusammengerollt, in Embryonalstellung. »Der Großteil der Prostituierten der Vila Mimosa vereint zwei Charaktere in sich: den der Mutter und den der Sexarbeiterin«, sagt er. Dieser doppelten Rolle der Frauen wollte er in seiner Arbeit gerecht werden. Es ging Guilherme nicht darum, das Rotlichtviertel an sich zu verändern. Er wollte die Räume der Selbstermächtigung neu gestalten, sie freundlicher und einladender machen.

Unzählige Stunden verbrachte er mit Cleide und führte lange Gespräche. »Es ging vor allem um eines: Wie soll die Zukunft aussehen?«, sagt sie. Das Ergebnis dieser gemeinsamen Arbeit überzeugt sie. Die Gebäude, die Guilherme entworfen hat, bieten Platz für eine Vielzahl an Aktivitäten außerhalb der Prostitution. »Hüfte und Beine der sich hingebenden Frau können für Präsentationen und Veranstaltungen verwendet werden«, erklärt er. Aus hellem und transparentem Material soll dieser Teil sein, nicht abgeschottet vom Rest der Welt. Die Frauen der Vila Mimosa wollen ihn für eine Ausstellung über die Geschichte der Prostitution in Brasilien und ihrem Viertel nutzen. Kopf und Arme könnten das Weiterbildungszentrum beherbergen. So sieht es Guilherme zumindest in seinem Konzept vor.

Die andere Figur, die für die Rolle der Mutter steht, weist einen intimeren Charakter auf. »Eine Sache hat mich während meiner Recherche schockiert«, sagt Guilherme. Nämlich, dass viele der Prostituierten ihre Kinder zur Arbeit mitnehmen und in einer Art Kinderkrippe abgeben. Im Schoß des zusammengerollten Frauenkörpers soll diese jetzt unterkommen. »Es muss einen organisierten, geschützten Raum für diese Kinder geben«, erklärt er. Der Bereich des Kopfes widmet sich dem Wohlergehen der Frauen selbst: ihrer Gesundheit. Hier sollte der Arzt, der schon heute ehrenamtlich Untersuchungen anbietet, seinen Platz haben.

Bis jetzt ist das Projekt jedoch nur ein Traum. »Es wäre schön, wenn sich jemand finden würde, der investieren will«, sagt Cleide Almeida. Eine zeitlang hat sie gemeinsam mit Guilherme Ripardo nach Geldgebern gesucht. Doch die Suche gestaltete sich schwierig. Keine politische Institution hat bisher Interesse an der »Stadt der Mädchen« gezeigt. Auch sonst engagieren sich nur wenige Politiker aktiv für eine marginalisierte Personengruppe wie die der Prostituierten. »Das würde für sie das Ende ihrer Karriere bedeuten«, gibt Cleide zu, die eigentlich über gute Kontakte verfügt. Trotzdem kann sie nicht nachvollziehen, weshalb Brasilien Milliarden für die Fußball-Weltmeisterschaft ausgibt, obwohl Investitionen in Gesundheit und Bildung derzeit viel wichtiger wären.

Als der damalige Präsident Luiz Inácio Lula 2007 bekannt gab, dass Brasilien sowohl die Fußball-Weltmeisterschaft 2014, als auch die Olympischen Spiele 2016 austragen würde, verfiel das Land zunächst in einen Freudentaumel. Doch die Stimmung wandelte sich, je näher die Sportevents rückten. Immer mehr Menschen äußerten Kritik an den horrenden Ausgaben für Neu- und Umbauten und begannen gegen die Zwangsumsiedlungen ganzer Stadtteile zu demonstrieren. Auch die Vila Mimosa befindet sich an einem Ort, an dem ein Bauvorhaben realisiert werden soll.

Der Schnellzug zwischen Rio de Janeiro und São Paulo, dessen Trasse in den Plänen der Regierung durch das Gebiet des Rotlichtviertels führt, hätte eigentlich schon zur Fußball-Weltmeisterschaft in Betrieb sein sollen. Doch immer wieder wurde der Eröffnungstermin für die Bahnstrecke verschoben. Zuerst auf das Jahr 2016, dann auf 2020.

Für die Frauen der Vila Mimosa war die Nachricht ein Schock. »Viele haben mich gefragt, ob wir jetzt wieder umziehen müssten«, sagt Cleide. Das würde bedeuten, vieles von Vorne beginnen, sich einen neuen Raum erkämpfen zu müssen. Und diesen erst einmal zu finden. »In Zentrumsnähe ist für die Vila Mimosa kein Platz, dort will man die Prostituierten nicht.« Das Rotlichtviertel müsste Richtung Vororte übersiedeln. Ein Umzug würde die Sexarbeiterinnen ein ums andere Mal marginalisieren und sie noch weiter an den Rand der Gesellschaft drängen, glaubt Cleide.

Dabei gab es in letzter Zeit auch gute Nachrichten. Inzwischen scheint es, als würde die Regierung den Plan des Schnellzugs zwischen Rio de Janeiro und São Paulo endgültig verwerfen. Konkrete Informationen dazu lassen sich nicht eruieren, doch ist sich Cleide sicher, dass sie nicht um das Weiterbestehen der Vila Mimosa am aktuellen Ort kämpfen wird müssen.

Im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft hat sich außerdem ein Mann bei ihr gemeldet: Er arbeitet für eine Firma mit Sitz in London, die Projekte im Bereich Museen und Ausstellungen entwickelt und umsetzt. Er wollte mehr über die »Stadt der Mädchen« erfahren und lässt – wie er auf schriftliche Anfrage bekannt gibt – derzeit Finanzierungsmöglichkeiten prüfen. Für die Sozialarbeiterin Cleide Almeida und den Architekten Guilherme Ripardo ist das ein erster Erfolg. Das Interesse eines internationalen Unternehmens an der »Stadt der Mädchen« zeigt, dass sie doch kein utopischer Traum ist, sondern Wirklichkeit werden könnte. Dann hätte Cleide endlich Zeit, sich voll und ganz auf die Bereitstellung von Weiterbildungsprogrammen zu konzentrieren. Zur Selbstermächtigung der Prostituierten.

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Die vergessenen Veteranen

Lateinamerika, Sozialer Protest

Jeden Tag nach der Arbeit setzt sich Luis Giannini in sein Auto. Er fährt die Stadtautobahn entlang, vorbei an grauen Wohnhäusern, die 20 Kilometer bis ins Zentrum von Buenos Aires. In der Nähe des pinken Präsidentschaftspalastes parkt er seinen Wagen. Dann verschwindet er in einem kleinen Verschlag aus Holz und Plastik, der am Rand des Platzes zwischen den Bäumen steht. In der Nähe stecken 17 weiße Holzkreuze in der Wiese. Dahinter die Skulptur eines gefallenen Soldaten. Umgeben von großen Plakaten, die der kühle Herbstwind unermüdlich wegzureißen versucht. »Wir erinneren uns und fordern Gerechtigkeit«, steht darauf geschrieben.

Der schwarze Verschlag, der einem Feldlager ähnelt, wurde von ehemaligen Soldaten des Falklandkrieges errichtet. Aus Protest. Denn sie werden vom argentinischen Staat als Kriegsveteranen nicht anerkannt. Weil sie an der argentinischen Küste stationiert waren und die Malvinas – wie die Inseln in Argentinien heißen – nie betreten haben.

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Es war im April 1982, als die argentinische Militärjunta überraschend den bewaffneten Konflikt mit Großbritannien vom Zaun brach. Es geht um ein karges Stück Land im Südatlantik, auf dem hauptsächlich Pinguine und ein paar Tausend Menschen leben. Seit 1833 gehören die Falklandinseln politisch zum 12.735 Kilometer weit entfernten Großbritannien. Das geographisch näher liegende Argentinien stellt seit jeher Ansprüche darauf. Weil Diktator Leopoldo Galtieri 1982 von innenpolitischen Problemen und der drohenden Wirtschaftskrise abzulenken versucht, schickt er kurzerhand seine Truppen auf die Inseln, um tags darauf triumphierend die Rückeroberung der Malvinas zu verkünden.

Das unter der Militärdiktatur geschundene Volk jubelt. Menschen ziehen durch die Straßen der Hauptstadt, schwenken Fahnen und feiern ihre tapferen Soldaten. Aber schon bald schlägt der Jubel ins Gegenteil um. Denn die Rechnung hatte Argentiniens Diktator ohne die bestens ausgebildeten Streitkräfte Großbritanniens gemacht: Nach 649 Gefallenen und 74 Tagen Krieg mussten die argentinischen Soldaten ihre Waffen abgeben. »Wir gingen als Helden fort und kamen als Versager zurück«, erinnert sich Luis Giannini an den Tag, als er aus dem Krieg heimkehrte. Mitten in der Nacht brachte man die Soldaten in die Kasernen. Die Fenster der Busse waren mit Tüchern verhängt und man verbot ihnen, über den Krieg zu sprechen. »Sie haben uns versteckt«, sagt er. So, als hätte es nie einen bewaffneten Konflikt gegeben. So, als hätte Argentinien den Falklandkrieg nie verloren.

Seit dem Krieg sind 32 Jahre vergangen. Dass der Staat sie bis heute als Kriegsveteranen nicht anerkennt, können die Männer auf dem Platz vor dem Präsidentschaftspalast nicht nachvollziehen. »Es waren nicht nur Soldaten auf den Falklandinseln vom Konflikt betroffen, sondern auch wir, die wir am Kontinent Befehle ausgeführt haben«, sagt Luis. Er fungiert als Sprecher der Gruppe, die sich »Veteranen des Operationsgebietes Südatlantik« nennt. Ihr gehören rund 400 ehemalige Soldaten an. Sie alle waren während des Falklandkrieges auf den Militärbasen an der Atlantikküste stationiert. Vor sechs Jahren haben sie sich zum Protest organisiert. Luis schätzt, dass sich landesweit bis zu 8.000 Männer in einer ähnlichen Situation befinden. Wie viele es genau sind, kann er aber nicht sagen. Offizielle Rekrutenlisten gibt es nicht.

»Das Schlimmste am Krieg war die Zeit danach«, sagt Luis. Die Argentinier waren auf eine Niederlage nicht vorbereitet und damit beschäftigt, zur Demokratie zurückzufinden. Die jungen Männer, die aus dem verlorenen Krieg heimkehrten, wurden von Staat und Gesellschaft im Stich gelassen. »Diese Gleichgültigkeit bringt dich um«, sagt er und deutet auf seine vernarbten Handgelenke.

Tatsächlich nahm sich der Staat erst zehn Jahre nach Kriegsende, in den frühen Neunzigern, der Kriegsveteranen an. Die Selbstmordraten hatten alarmierende Höhen erreicht. Die Politik versuchte mit Gesetzen gegenzusteuern, versprach finanzielle und psychologische Unterstützung. »Wir waren in diesen Gesetzen inkludiert«, erklärt Luis. Doch dann wurde infrage gestellt, ob es sich bei den am Kontinent stationierten Wehrpflichtigen tatsächlich um Kriegsveteranen handelte. »Uns wurde gesagt, wir gehörten nicht dazu, weil wir die Falklandinseln nie betreten hatten.« Die Gesetze wurden mehrfach reformiert und die Definition, welche Gebiete zum Kampfschauplatz des Falklandkrieges gehörten, wiederholt abgeändert. Am Ende waren jene Soldaten, die auf den Malvinas, in der Luft und in der Kriegszone im Meer stationiert waren, offiziell anerkannt. Die Kontinentsoldaten nicht.

Das Problem liegt in der unvollständigen Dokumentation des Falklandkrieges. Viele der offiziellen Berichte, die Antworten auf offene Fragen geben könnten, halten sowohl der argentinische als auch der britische Staat bis heute unter Verschluss. Historiker sprechen von einer »Desmalvinización«, von der Verdrängung des Konflikts, den man der Militärdiktatur zurechnet. Um zu verstehen, was während des Krieges tatsächlich passiert ist, kann man demnach nur auf Erfahrungs- und Zeitungsberichte zurückgreifen. »Viele der anerkannten Veteranen stellen es so dar, als wären wir am Kontinent auf Urlaub gewesen«, sagt Luis Giannini. Für ihn sieht die Realität anders aus.

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Nur wenige Häuserblocks vom Präsidentschaftspalast entfernt, im illustren Stadtteil San Telmo, befindet sich die Kanzlei von Roberto Martínez. Er ist Rechtsanwalt und hat sich 2010 dem Thema der Kriegsveteranen angenommen. Über 1.000 Fälle sind es, die er mit zwei Mitarbeitern aktuell bearbeitet. Für ihn ist die Sache klar: Die Männer haben die staatliche Anerkennung verdient.

»Die britischen Flotten wurde aus der Luft attackiert. Doch die Kampfjets starteten nicht auf den Malvinas sondern auf dem Kontinent«, sagt er. Auch Transportflüge zu den Falklandinseln wären von Küstenstädten wie Trelew, Comodoro Rivadavia, Río Gallegos oder Río Grande aus geführt worden. Und ohne die Soldaten am Boden wäre ein Krieg gar nicht möglich gewesen. Demnach handelte es sich bei den Militärbasen an der Küste um strategisch wichtige Punkte. Und diese hätten von Einheiten der britischen Streitkräfte jederzeit angegriffen werden können.

Luis Giannini zeigt auf die 17 Kreuze neben dem Plastikverschlag. »Die ersten Toten gab es am Kontinent.« Gut erinnert er sich an das schallenden Pfeifen der Sirenen, das höchste Alarmstufe bedeutete. An die kalten, nassen Nächte, die er im Schützengraben verbrachte und auf das Meer hinausstarrte. Die geladene Waffe immer griffbereit. »Irgendwann in der Früh kamen unsere Vorgesetzten und erzählten von einem abgestürzten Helikopter.« Erst später sollte er erfahren, dass die Briten den Helikopter abgeschossen hatten. Dass zwei feindliche U-Boote vor der Küste kreuzten. Und dass am Kontinent britische Elitesoldaten aufgegriffen worden waren. »Mir kann niemand erzählen, dass ich nicht im Krieg war«, sagt er.

Alle Männer auf dem Platz erzählen ähnliche Geschichten und versichern: Hätten sie die Militärbasen am Kontinent nicht verteidigt, hätten die Briten Flugzeuge am Boden in die Luft gesprengt und die argentinischen Piloten im Schlaf getötet. Als ein Pilot des britischen Special Air Service im Jahr 2008 ein Buch über den Falklandkrieg veröffentlicht, bekommen ihre Aussagen überraschend Unterstützung vom ehemaligen Feind. Es gab Infiltrierungsversuche, schreibt Richard Hutchings, der das Buch im April neu aufgelegt hat. Auf Anfrage bestätigt er seine Aussagen. Er selbst habe einen der Hubschrauber geflogen, der britische Soldaten auf das argentinische Festland brachte.

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»Das Absurde ist, dass die Namen der 17 am Kontinent gefallenen Soldaten in den Listen der Kriegshelden auftauchen«, sagt Rechtsanwalt Roberto Martínez. Anfang der Neunziger ließ der damalige Präsident Carlos Menem in der Nähe des Hauptbahnhofes ein Denkmal für die Toten des Falklandkrieges errichten. 649 Namen wurden in Stein gemeißelt. Auch die der Besatzung des abgeschossenen Helikopters. Die Hinterbliebenen erhalten heute finanzielle Zuwendungen vom Staat. »Um als Kontinentveteran anerkannt zu werden, muss man tot sein«, schließt Roberto Martínez daraus. »Hier wird mit zweierlei Maß gemessen.«

Dabei geben internationale Abkommen, wie etwa die Genfer Konvention, den Kontinentsoldaten eigentlich recht. Auch der französische Veteranenverband ARAC hat sich die Situation angesehen und kam zu dem Schluß, der Staat müsse die Männer anerkennen. Selbst Richard Hutchings, der ehemalige Pilot des britischen Special Air Services, erklärt sich mit den Kontinentsoldaten solidarisch. National wäre eine Anerkennung leicht umzusetzen. »Es müsste ein einziges Gesetz reformiert werden«, sagt Roberto Martínez, kramt in seinen Unterlagen und legt einen entsprechenden Gesetzesentwurf aus dem Jahr 2012 auf den Tisch. Doch passiert ist bisher nichts.

Den Grund für die Untätigkeit der argentinischen Regierung kennt eine Frau, deren Büro sich im siebten Stock eines modernen Glaskomplexes direkt gegenüber des Kongressgebäudes befindet. Patricia Bullrich ist Nationalratsabgeordnete der Opposition und hat den Gesetzesentwurf gemeinsam mit drei Kollegen im Abgeordnetenhaus eingebracht. »Hier geht es ums Geld«, sagt sie. Denn: Wer als Kriegsveteran anerkannt wird, hat Anspruch auf finanzielle Unterstützungsleistungen vom Staat und eine erhöhte Pension. »Das Problem ist, dass man nicht genau weiß, wie viele Männer für den Falklandkrieg eingezogen wurden. Die Regierung hat Angst, dass die Kosten ins Unendliche steigen könnten und zieht es deshalb vor, gar nichts zu machen«, erklärt sie.

Der Gesetzesentwurf wurde im Abgeordnetenhaus abgelehnt. Patricia Bullrich brachte ihn ein zweites Mal ein. Wieder negativ. »Sehr viel mehr kann ich als Oppositionelle nicht machen«, sagt sie. »Hier müsste die Regierung die Initiative ergreifen.«

Manche der ehemaligen Soldaten sind mit ihren Forderungen inzwischen vor Gericht gezogen. Doch für diesen Weg braucht es einen langen Atem und viel Geduld, weiß Roberto Martínez. »Es ist schwierig einen Richter zu finden, der sich der Sache annimmt«, sagt er. »Und dann werden die Fälle über Jahre hinweg verschleppt.« Auch er glaubt, dass es hauptsächlich ums Geld ginge. Der Falklandkrieg wäre ein heikles Thema und die Aufarbeitung der Militärdiktatur habe gerade erst begonnen. »Man zieht es vor, die Kontinentveteranen auf dem Platz vor dem Regierungspalast zu belassen, als eine konkrete Entscheidung zu treffen«, sagt er. Um ja nichts falsch zu machen, um niemandem auf den Schlips zu treten. Dabei liegt seit 2010 ein Urteil des Obersten Gerichtshofes vor, das die Anerkennung der Kontinentsoldaten als Kriegsveteranen verlangt. »Aber das interessiert niemanden«, sagt er.

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Die argentinische Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner lebte zur Zeit des Krieges an der Atlantikküste. Am Gedenktag zu Ehren der Gefallenen der Malvinas erinnert sie sich in ihrer Rede an die nächtlichen Fliegeralarme. Daran, dass die Bewohner von Río Gallegos Häuser und Autos verdunkeln mussten. Dass die Gefahr bestand, die Stadt könnte vom Feind bombardiert werden. Würde sie heute auf den Balkon des Präsidentschaftspalastes hinaustreten und ihren Blick über den Platz schweifen lassen, käme sie nicht umhin, auch die Worte auf den Plakaten der Kontinentveteranen zu lesen.

Seit sechs Jahren halten die »Veteranen des Operationsgebietes Südatlantik« inzwischen auf dem Platz vor dem Präsidentschaftspalast die Stellung. Jeden Tag, 24 Stunden. Selbst zu Weihnachten und Neujahr ist jemand unter den Plastikplanen anzutreffen. Als sie das Camp errichteten, glaubten die Männer, innerhalb weniger Wochen wieder abziehen zu können. Doch sie hatten sich geirrt. Während Luis Giannini seine Geschichte erzählt, wandert sein Blick immer wieder ins Leere. Bis heute lassen ihn die Erinnerungen an den Krieg nicht in Ruhe. Die Anerkennung würde ihm Frieden geben, glaubt er. Er würde sich nicht mehr als Versager fühlen. Und die Männer könnten das Camp endlich abbauen. Mit der Vergangenheit abschließen. »Wir sind unglaublich müde, aber wir müssen weitermachen«, sagt er. So lange, bis die Politik reagiert.

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Argentiniens Déjà-vu

Lateinamerika, Sozialer Protest

Doña Rachel Angélica kann sich ihr Leben nicht mehr leisten. Jeden Tag sitzt sie in der Nähe ihres Hauses in der Straße Ecuador und wartet. Darauf, dass jemand vorbei kommt und ihr ein paar Centavos in die Hand drückt. Eigentlich bekommt die 65-jährige Witwe eine staatliche Pension von monatlich 2.477 Pesos, umgerechnet 225 Euro. Doch das Geld reicht nicht zum Leben, rinnt immer schneller durch die Finger.

Seit einigen Wochen erlebt Argentinien ein Déjà-vu. Der Staat befindet sich in einer wirtschaftspolitischen Krise und das kann spätestens seit der Abwertung des argentinischen Pesos Ende Januar kaum noch jemand bestreiten. Manch regierungskritischer Journalist geht so weit, die aktuellen sozialen und politischen Spannungen mit der Situation Ende 2001 zu vergleichen, als im Land ein stark aufgeheiztes Klima herrschte und Argentinien 2002 schließlich Staatsbankrott anmelden musste. Ganz so dramatisch ist die Lage heute freilich nicht. Und doch: sie spitzt sich zu.

Die Inflation rattert fröhlich vor sich hin, führt zu teils immensen Teuerungen der Lebenshaltungskosten. Zahlte man etwa für einen Becher Joghurt im Dezember des vergangenen Jahres noch 1,99 Pesos (0,18 Euro), so muss man inzwischen 7,45 Pesos (0,68 Euro) dafür hinlegen – das entspricht einer Preissteigerung von 275% innerhalb weniger Wochen, die vor allem die Mittelschicht zu spüren bekommt. Und Menschen wie Doña Rachel Angélica, die auf staatliche Zahlungen angewiesen sind.

Den Ernst der Lage will sich die seit 2007 amtierende und 2011 wiedergewählte Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner aber offenbar nicht eingestehen. Als sie Anfang März die neue Sitzungssaison des Parlaments eröffnete, nahm sie das Wort »Inflation« in ihrer dreistündigen Rede nicht einmal in den Mund. Auch zuvor wurde das Thema totgeschwiegen, Statistiken beschönigt, geldgierige Supermarktketten und Spekulanten für die enormen Preissteigerungen verantwortlich gemacht. Es ist der öffentliche Diskurs, mit dem man den Kirchnerismo der letzten Jahre zu verteidigen versucht. Und die hohe Inflation – die laut offiziellen Angaben bei jährlich 10% liegt, während sie unabhängige Experten auf bis zu 40% für das Jahr 2014 schätzen – wird gekonnt ausblendet.

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Die Realität aber spiegelt wieder, was schon länger unter der Oberfläche brodelt: Das Volk probt den Aufstand. Erst im Dezember legte die argentinische Polizei in weiten Teilen des Landes ihre Arbeit nieder, um die Forderung nach der Verdoppelung ihres Gehalts durchzusetzen. In Folge des Streiks herrschte Chaos, kam es zu Ausschreitungen und Plünderungswellen, gab es Verletzte und Tote. Und jetzt im März sollte nach den großen Sommerferien eigentlich wieder der Unterricht für Argentiniens Schüler beginnen. Doch auch hier geht es ums Geld: Die Lehrergewerkschaften feilschen um bis zu 61% höhere Löhne und drohen mit einem Generalstreik, sollte ihnen die Regierung nicht entgegen kommen. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendwo im Land protestiert wird. Allein im Februar gab es landesweit 519 Straßenblockaden, mithilfe derer Hauptverkehrsrouten lahmgelegt wurden und Gewerkschaften versuchten, ihre Forderungen durchzubringen. Das Wissenschaftsinstitut Diagnóstico Político misst anhand dieser so genannten »Piquetes« das soziale Konfliktpotenzial: ein neuer Monatsrekord seit Februar 2009.

Unterdessen herrscht in der Straße Florida im Zentrum von Buenos Aires chaotisches Treiben. Massen an Touristen drücken sich durch die enge Einkaufsmeile, die den Glanz vergangener Tage längst verloren hat. Immer wieder hallt ein kräftiges »Cambio, cambio!« aus einer der vielen Ecken über die Straße. Ein Wort, das den Weg in eine der illegalen Wechselstuben, getarnt als Reisebüros oder Antiquitätenhändler, weist. In diesen Monaten stehen die Menschen dort Schlange, auf den Theken liegen dicke Geldschein-Bündel. Die angespannte Situation lässt viele Argentinier in alte Muster zurückfallen. Sie suchen Sicherheit im Anhäufen harter Währungen, allen voran des US-Dollars.

Das ist gar nicht so einfach, hat die Regierung den privaten Dollar-Kauf 2011 doch stark reglementiert und hoch versteuert. Bis dahin florierte die Wirtschaft des Landes, die Euro-Krise nahm man in Lateinamerika kaum wahr. Doch das Nachlassen des starken Wachstums bringt Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner heute immer stärker in die Bredouille. Die hohen Subventionierungen von Strom, Gas, Wasser und Transport, die die Verbraucherpreise drücken sollten, sind immer schwerer aufrecht zu erhalten. Der Preis des U-Bahn-Tickets steigt beträchtlich, zahlte man 2012 noch 2,50 Pesos (0,22 €), so werden ab Mitte März diesen Jahres bereits 4,50 Pesos (0,41 €) dafür fällig.

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Argentinien braucht Geld und so greift die Regierung mittlerweile zu teils radikalen Maßnahmen, um Devisenabflüsse einzudämmen und die Auswirkungen der hohen Inflation – die sie nach wie vor dementiert – auf die Bevölkerung abzufedern. Seit Februar 2012 muss jeder Import von den argentinischen Behörden genehmigt werden. Dies führt dazu, dass Waren teilweise wochenlang beim Zoll festhängen und in den Supermarktregalen fehlen. Mit der vielleicht skurrilsten Maßnahme verpflichtete die Regierung schon 2011 ausländische Unternehmen, Produkte im selben Wert auszuführen, wie sie nach Argentinien importierten. Das führte dazu, dass etwa Autohersteller wie Porsche und BMW plötzlich Wein, Olivenöl oder Reis exportierten. 2012 kündigte die Regierung außerdem an, den Ölkonzern YPF zu verstaatlichen und den größten Eigentümer, die spanische Repsol, damit schlicht zu enteignen. Im Februar diesen Jahres wurden die Verhandlungen um Entschädungszahlungen an den ehemaligen Haupteigentümer trotz zwischenstaatlicher Spannungen abgeschlossen. Dennoch brachte dieses Vorgehen Argentinien 2012 eine EU-Klage vor der Welthandelsorganisation wegen Protektionismus ein.

Die hohe Inflation konnte durch all diese Maßnahmen nicht gebremst werden. Inzwischen hat die Regierung Preise ausgewählter Produkte des täglichen Bedarfs unter dem Schlagwort »Precios Cuidados« eingefroren. Und die Argentinier tauschen weiter ihre Pesos in Dollar um, ein Indikator dafür, dass das Vertrauen in die Regierung schwindet. Nach offiziellem Wechselkurs bekommt man einen Dollar heute um knapp 8 Pesos, auf dem Schwarzmarkt zahlt man 11,20 Pesos dafür. Trotz der hohen Raten sind die Menschen bereit, ihre argentinischen Pesos gegen Dollar einzutauschen. Denn sollte es crashen wie vor zwölf Jahren, wären zumindest ihre Ersparnisse auf der sicheren Seite.

Doña Rachel Angélica hat diese Möglichkeit nicht. Ihr bleibt kein Geld, das sie umtauschen könnte.»Unter den Kirchners hat sich nichts geändert«, gibt die Pensionistin verdrossen von sich und zupft ihre Strumpfhose zurecht. Sie spricht von hoher Kriminalität. Beklagt, dass die Menschen kein Gewissen mehr hätten. Anfang Februar wurden die Pensionen angehoben. Um 11,31% auf umgerechnet 250 Euro. Doch selbst das wird nicht zum Leben reichen, denn die Inflation macht weiter ihre Sprünge. Und so wird Doña Rachel Angélica auch morgen wieder in der Straße Ecuador sitzen und hoffen, dass noch jemand Geld für sie über hat.

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